(II. Akt: Atratus)
Der Mann, der an der Tür stand, war um die 1,60 m. Sein Haar war zwar noch überall auf dem Kopf verteilt und sehr dick, aber schneeweiß. Das Helle stand dabei im Gegensatz zur schwarzen Uniform, die er trug. Goldene Knöpfe, drei dicke und ein schmaler goldener Ring an den Ärmeln der Admiralsjacke. Viel zu wenig, um gegen das Dunkle einen Hauch von Chance zu haben. Es wirkte wie ein
Goldrausch, der viel zu früh zuende gegangen war.
Die Hand, die auf der Klinke ruhte, blieb ruhig.
Stille sickerte vom Flur herein und schlich durch die Szene, in der sich die beiden Männer in ihren dunklen Uniformen musterten. Schwarz, und doch nicht schwarz.
Im Gegensatz zum Admiral war die Uniform des sitzenden Mannes, die eher an Heeresjacken erinnerte, mit silbernen Knöpfen durchsetzt. Am auffälligsten allerdings war jedoch der Totenkopf an der Schirmmütze, die mit ihrem dunklen Stoff auf dem Tisch neben der Aktentasche lag.
Zuerst sahen sich die beiden Männer schweigend an, dann löste sich der Neuankömmling und trat ins Zimmer. Leicht schlurfender Gang. Langsam ging er auf den Tisch zu und verharrte vor dem leeren Stuhl.
"Sie?", fragte der Mann in Schwarz und schaute seinem Gegenüber in dessen schläfrige Augen, von denen er wusste, dass sie ganz und gar nicht müde waren. Im Gegenteil: Hellwach. Genau wie alles andere von ihm, dass sich neugierigen Blicken durch diese Außenwirkung entzog. Ohne seine Uniform wäre er im KdW bei einer Menge im
Kaufrausch sicherlich nicht weiter aufgefallen, während er hinter dieser Maskerade alle Anwesenden akribisch erfasst hätte. Unerkannt und unerbittlich.
"Ich freue mich auch, Sie hier zu sehen, alter Freund", sagte der Admiral und seine Lippen versuchten sich an einem halbherzigen Lächeln, als er die obersten Knöpfe seiner Jacke öffnete.
Der Mann in Schwarz starrte sein Gegenüber an, der nicht so wirkte, wie die meisten anderen Männer der Marine: Immer darauf bedacht, ein gutes Bild abzugeben, was Form, Haltung und selbst die Bewegungen betraf. Stets korrekt, stets vorbildlich.
Nein, dieser Admiral war anders, und das war er schon immer gewesen. Zwar charmant, unverbindlich, und besonders kein Verfechter der Etikette. Die Admiralsuniform mochte über manche Sachen hinwegtäuschen, doch er wusste, dass dies einer der gefährlichsten Männer war.
"Wo haben Sie denn Ihre Hunde gelassen?", fragte er und schaute sich um.
"Den beiden Dackeln geht es gut, Danke der Nachfrage", antwortete der Admiral, schaute nachdenklich auf die Tischkante und schmunzelte. "Ich denke, in der Zeit, die auf uns zukommt, brauche ich mich nicht mehr so intensiv um sie zu kümmern."
"Ich habe es nie verstanden, warum Ihnen die beiden Tiere derart ans Herz gewachsen sind", meinte der Mann in Schwarz. "Ständig haben Sie sich über Ihren Zustand informiert, mehr als über Ihre eigene Familie."
Der Admiral nickte, mehr zu sich selbst, als zu seinem Gegenüber.
"Ich bin gerührt, dass Sie meine Sorgen um die Dackel auf Band aufgenommen haben", sagte er und hob den Blick. "All die Jahre."
Schweigen entsprang aus einem unsichtbaren Brunnen unter dem Tisch und sickerte nach oben. Der Mann in Schwarz fühlte sich nicht ertappt, als der Begriff '
Abhöraktion' unausgesprochen zwischen ihnen hing. Warum auch? Er war für die Sicherheit zuständig, der Wächter, der auch über die anderen Wächter zu wachen hatte.
"Haben Sie es im Sonderstab HWK nicht mehr ausgehalten?"
"Ach, ich war gerade in der Gegend und dachte, ich schaue mal herein."
Der Mann in Schwarz konnte seine Verwunderung nur mühsam verbergen, auch wenn er wusste, dass sein Buchhalter-Gesicht für solche motorischen Bewegungen nicht gerade förderlich war.
"Sie haben noch nie einfach mal so herein geschaut", sagte der Mann in schwarz. "Also, was machen Sie hier?"
Der Admiral spitzte die Lippen.
"Man ist der Auffassung, dass ein für den Reichsführer-SS vertrautes Gesicht der Angelegenheit nicht abträglich ist, wenn Sie verstehen, was ich meine." Er deutete auf den leeren Stuhl. "Ich darf doch, Herr Himmler?"
Innerlich zuckte er zusammen, was nicht am Namen selbst lag, sondern eher daran, wie der Admiral das Herr ausgesprochen hatte.
"Ich werde Sie nicht davon abhalten, Canaris", antwortete er und beobachtete, wie sein Gegenüber sich hinsetzte, die Jacke ganz aufknöpfte und dabei versuchte einen Eindruck von privater Lässigkeit zu vermitteln. Fast hätte man meinen können, man säße beim Admiral Zuhause und warte darauf, dass er als perfekter Gastgeber und begeisterter Koch den ersten Gang auftrug.
Das Gefühl einer heimischen Idylle, die alsbald verschwand, als der Admiral die Hände faltete, auf den Tisch legte und sich dabei ein Stück vorbeugte.
"Sie wissen, wo Sie sind?", fragte Canaris und schaute ihn mit seinen müden Hundeaugen an.
"In der Gegenwart von Landesverrätern. Wieso fragen Sie?"
"Ich wollte nur wissen, ob Sie bei klarem Verstande sind."
"Ich bin es."
"Und was machen Sie dann hier?", fragte Canaris. "Wollen Sie uns etwa alle verhaften?"
Der Reichsführer lehnte sich zurück.
"Dieser Gedanke ist mir gekommen, ja."
"Und wie? Sie sind ganz alleine."
"Das Viertel ist umstellt", antwortete der Mann in Schwarz und ein kleines Gefühl von Genugtuung machte sich unter der Uniform breit.
"Von wem? Diesem Remer?"
"Dem Verantwortlichen für den Großraum Berlin, ja."
Für einen Moment hörten sie wieder Gewehrschüsse, diesmal gefolgt vom Einschlag schwerer Granaten - nicht mehr weit weg.
Der Admiral schmunzelte.
"Und Berlin wird in diesen Minuten von der Wehrmacht umstellt. Mit Remer darin."
"Der Kamerad weiß sich zu behaupten."
Canaris legte den Kopf schief.
"Der Kamerad kämpft auf verlorenem Posten", sagte er und lehnte sich zurück. "Wien, Paris, Prag, Kopenhagen, Amsterdam, Brüssel und Mailand stehen bereits auf unserer Seite."
"Das ist mir bekannt."
"Wenn Ihnen das bekannt ist: Was wollen Sie dann hier?"
"Schlimmeres verhindern."
Der Admiral hob eine Augenbraue.
"Schlimmeres?", fragte er. "War das alles denn noch nicht schlimm genug?"
Der Reichsführer schwieg erst, überlegte scheinbar, bevor er antwortete.
"Wollen Sie, dass sich 1918 wiederholt?", fragte er. "Kapitulation. Dolchstoß. Bürgerkrieg. Inflation. Ruhr-Besetzung?" Er machte eine Pause, bevor er hinzufügte: "Diesmal sogar eine
reichsweite Besetzung."
"Wer will das schon. Wegen dieser Angst vor einem zweiten Mal ist soviel passiert." Canaris hatte es geflüstert, aber sein Gegenüber hatte es genau verstanden und schaute ihn auffordernd an.
"Hindenburg hatte Angst. Brüning hatte Angst, genau wie Von Papen."
"Alle hatten Angst davor", unterbrach ihn der Admiral. "Die Republik am Ende. Die Restauration der Monarchie nicht durchführbar. Kommunisten und Nationalsozialisten, die das Land fast entzweiten. Was sollten sie denn tun?" Er schüttelte den Kopf und Zorn schwang mit, als er fortfuhr. "Nur deswegen ist ER überhaupt so weit gekommen. ER, die letzte Hoffnung."
Das Buchhaltergesicht des Reichsführers schmunzelte.
"Canaris, der große Verteidiger der Demokratie", höhnte er, bevor er mit einem zischenden Unterton fortfuhr. "Und dann einer derjenigen Männer, die mit der Abwehr ein IHM untertäniges - und mächtiges - Instrument schufen." Er schaute den Admiral verächtlich an. "Widersprüchlich. Sehr widersprüchliches Verhalten als Landesverräter, alter Freund."
"Klingt, als müsste ich mich rechtfertigen."
"Nur zu, ich werde Sie nicht aufhalten", sagte der Mann in Schwarz. "Schließlich sind wir ja unter uns."
Der Admiral schwieg, setzte sich dann schließlich gerade hin und rückte mit dem Stuhl näher zum Tisch.
"Ich bin kein Demokrat", sagte er. "Und ich bin kein Nationalsozialist." Er presste die Lippen zusammen. "Ich habe nicht der Republik gedient, habe auch nicht IHM gedient, sondern immer nur dem Reich."
Der Reichsführer grinste.
"Das eine schließt aber das andere nicht aus, oder?" Das Grinsen verschwand so plötzlich, wie es aufgetaucht war. "Leider glaube ich Ihnen kein Wort. Sie hatten einfach nur Angst. Vor IHM."
Canaris starrte ihn mit einem durchdringenden Blick an.
"Angst vor IHM hatte jeder", sagte er. "Fast so viel, wie vor Ihnen."
"Ich bin nur ein treuer Gefolgsmann."
Ein tadelnder Blick vom Admiral.
"Wir wissen doch beide, dass Sie mehr als das waren."
Auf dem Gesicht des Reichsführers huschte ein kurzlebiges Lächeln.
"Genau wie sie."
Die beiden Männer in ihren schwarzen, und doch gegensätzlichen Uniformen schauten sich lange an. Schweigend. Taxierend. Wie zwei Duellanten auf einer Wiese, kurz vor dem finalen Schuss. Es war schließlich Canaris, der die Stille durchbrach.
"Ich habe nicht versucht, die Welt auszurotten."
"Sie haben aber dabei geholfen."
Auf dem Gesicht des Admirals zeigten sich die ersten Gewittersturmwolken und in seiner Stimme bebte es.
"Ich", sagte er und zeigte dabei auf seine oberen Goldknöpfe, "bin ein anständiger Deutscher."
"Und ein Verräter."
Es sah so aus, als würde Canaris nicht antworten wollen. Sein Gesicht schien jetzt mehr aus Eis oder Beton zu bestehen, die Grimassen unveränderlich. Falten auf der Stirn kündeten von Überlegungen an, bis sich die Haut wieder glättete. Scheinbar entspannt lehnte er sich wieder zurück und verschränkte die Arme.
"Das eine schließt das andere nicht mehr aus."
Der Reichsführer schaute ihn teilnahmslos an und nickte.
"Das dachte ich mir bereits."
Schweigen, wieder einmal. Dann wanderte ein warmes Lächeln über das Gesicht des Admirals, bevor es erfror.
"Wissen Sie", meinte er zum Mann in Schwarz ohne ihn anzuschauen, "anfangs habe ich gedacht: Ja."
"Ja? Wozu?"
"Die Polen. Nehmen unser Land, obwohl die Abstimmungen eindeutig waren. Besetzen beinahe den Danziger Freistaat. Deklarieren es als ureigenes polnisches Heimatgebiet, was es nie gewesen ist. Ja, sie sollten zurückgeben, was Sie sich widerrechtlich angeeignet hatten!"
Der Reichsführer nickte.
"Sehr richtig."
Canaris nickte auch erst, dann schüttelte er den Kopf.
"Und dann kamen sie", sagte er und zeigte auf den Mann in Schwarz. "Sie, Ihr SD, Ihre Gestapo, Ihre SS." Die Stimme des Admirals wurde leiser. "Und sie starben. Zu hunderten. Zu tausenden. Unzählige Leichenberge pflastern den Weg des Reichs. Bis heute. Nicht durch eine Kriegsfolge, sondern durch gezielte Tötungen. Massenerschießungen in Polen. Massentötungen im besetzten Europa! Massenvernichtung im Osten!"
Das Schweigen der Zeit kauerte unter dem Tisch und warf einen stummen Blick hinauf, bevor sich die Stimme des Admirals in einem Gemisch aus Traurigkeit, Verzweiflung, Enttäuschung und Wut erneut erhob.
"Und Sie, Herr Himmler, wollen ein anständiger Deutscher sein?"
Der Reichsführer schien unbeeindruckt zu sein.
"Ich bin es", antwortete er und unterstrich den Satz mit einem Nicken.
"Das sehen die Anderen ganz anders." Canaris sammelte die verräterischen Spuren seiner Gefühle, die sich auf dem Gesicht verloren hatten, wieder ein und zauberte eine nichtssagende Neutralität hervor. "Sie werden Sie einsperren, aburteilen, hängen oder erschießen. Und wenn es nach denen geht, würden sie sie nochmal wiederbeleben nach dem ersten Tod und das ganze Prozedere hundertfach wiederholen."
Der Admiral ahnte, dass das den Mann in Schwarz nicht sonderlich beeindrucken würde. Irgendwo im Hinterkopf geisterte noch immer die Frage herum, was der Reichsführer hier wollte - denn wirklich beantwortet hatte er die Frage nicht.
"Ich habe nicht vor zu sterben."
"Wer hatte das in den Konzentrationslagern schon?"
Schweigen.
"Sie hätten die Wolfsschanze frühzeitig aus dem Verteiler nehmen müssen", meinte der Mann in Schwarz stattdessen. "Das war ein unverzeihlicher Fehler."
Das eisige Lächeln des Admirals kehrte wieder zurück.
"Der einzige unverzeihliche Fehler", sagte er, "ist der, dass wir den Anschlag viel früher hätten durchführen sollen."
Der Reichsführer ignorierte die letzte Bemerkung.
"Sie haben von inneren Unruhen berichtet und sind doch dabei ausgegangen, dass ER tot ist." Der Mann in Schwarz gönnte sich selbst ein zufriedenes Grinsen. "Aber der Führer lebt. Schwer verletzt zwar, aber lebendig."
Der Admiral schaute ihn ungläubig an.
"Bitte was?"
"Er ist nicht in der Lage, sich mitzuteilen", fuhr der Reichsführer fort. "Zurzeit wird er bewacht vom
Führerbegleitkommando, das niemanden außer mich zu ihm lassen wird."
"Das glaube ich nicht."
"Das dachte ich mir schon."
Canaris schien ein Stück in sich zusammengefallen zu sein. Der
zwanzigste Juli war schon lange geplant worden. Alles hing daran, dass ER den Anschlag nicht überleben würde. Eine Bedingung, ohne die es nicht ging. Und jetzt das.
"
General Stieff", sagte er schließlich mit trockener Stimme, "hat doch gemeldet, dass er tot auf einer Bahre herausgetragen wurde."
Der Mann in Schwarz griff nach seiner Aktentasche und holte eine Mappe hervor.
"Deswegen", sagte er, legte mehrere Bilder auf den Tisch, drehte sie um und schob sie zum Admiral hinüber, "habe ich zum einen das hier."
Canaris schaute auf die Bilder. Ja, da war ein Mann in einem Krankenbett. Schwer zu sagen, wo sich das Zimmer befand, da durch die Scheiben kein Blick hinaus möglich war. Aber das war ER, unverkennbar. Die Bettdecke bis zum Oberkörper hochgezogen, die Arme lagen außerhalb. Das Gesicht war ausdruckslos. Offene Augen, halb geöffneter Mund. Er starrte einen Punkt an, den nur er sehen konnte.
Die Stimme des Admirals war brüchig und trocken, als er eines der Bilder in die Hand nahm.
"Und was noch?", fragte er.
"Mein Fahrer weiß Bescheid."
"Ihr ...?"
Der Reichsführer lächelte und lehnte sich sichtlich entspannt zurück.
"Na los doch."