Auf Wunsch von Persephone ^^
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Überall Grün, schillernd im Licht einer tiefstehenden Sonne. Die Dachterrasse des Hotels war ein Garten Eden, genauso wie viele andere Gipfel der Spiegelfassadentürme. Wer von hier oben auf die Stadt blickte, sah eine fremdartige Welt aus grünen Terrassen und Balkonen, die selbst im Kern nur einer kleinen Elite vorbehalten war. Red kam sich zwischen den Pflanzen deplatziert vor, vor allem aber schmerzte ihn der Anblick. Er hatte Liz nie richtig zugehört, wenn sie von den blühenden Gärten über der Stadt gesprochen hatte. Hatte ihr nur versprochen, sie dort hinzubringen. Er hatte ihr alles Mögliche versprochen.
Ein Kellner im schicken Anzug sprach ihn mit „Sir“ an und wollte ihm ein Getränk von der Bar holen. Red folgte seinem Blick zu einem gläsernen Pavillon, aus dem chillige Elektroklänge waberten, und schüttelte den Kopf. Er konnte sich selbst was zu Trinken holen. Aber eigentlich war er auf der Flucht und wollte sich ein bisschen zudröhnen. Ungestört.
Er suchte sich ein ruhiges Plätzchen an einem Brunnen. Eine schwarze Pyramide, über die das Wasser in bunten Lichtspielen perlte. Auf einem Findling setzte sich Red und kramte das Synth aus der Innentasche seiner neuen Lederjacke. Leckte sich über den Zeigefinger, dippte ein paar Kristalle und drückte sie sich auf die Zunge. Die Bitterkeit jagte einen Schauer durch seinen Körper. Er hoffte: In ein paar Minuten würde die Welt besser aussehen.
Nach der Begegnung mit Phage war seine Stimmung auf dem absoluten Tiefpunkt. Maze war irgendwie angefressen und hatte eine weitere Konfrontation verweigert. Also war Red frustriert abgehauen. Dass der Wirehead und die KI sich nicht einig waren, verkomplizierte die ganze Geschichte. Red schwirrte ohnehin schon der Kopf. Er wusste nicht, wem er glaubten sollte. Ob Maze ihn verarschte oder ob Phage ihn manipulieren wollte. Vielleicht spielten beide falsch. Vielleicht sollte er aber auch dem Wirehead vertrauen. Zumindest wollte er das.
„Schöner Ort, was?“ Wave stand plötzlich vor ihm. Ihr violett geschminkter Mund verzog sich zu einem unscheinbaren Lächeln, das Beobachter als einprogrammiert deuten würden. Aber Red erkannte die Echtheit darin.
„Ja, irgendwie schon.“ So richtig ätzend schön.
Sie setzte sich zu ihm. Er betrachtete ihre schlanke Gestalt. Sie trug ein schwarzes Top und Jeans und sah fast wie eine junge Frau aus. Wie eine echte. „Hast du mich gesucht?“, fragte Red.
„Nein. Aber es passt, dass ich dich hier sehe. Wie ist es gelaufen?“, erkundigte sich die KI.
Red seufzte. „Ziemlich beschissen.“ Er umriss grob den Gesprächsverlauf. „Maze hat mich einfach rausgeworfen. Und ich hab immer noch keinen Plan, was Phage eigentlich will und was ich von ihm halten soll.“ Schüttete er gerade einer KI sein Herz aus? „Ich dachte, wir wollen das Gleiche, aber die beiden sind sich nicht einig. Das ist doch scheiße.“
Wave sah ihn schief von der Seite an. „Ich habe auch nicht herausgefunden, was Phage wirklich antreibt. Aber eins ist sicher: Maze mag dich.“
Red schnaufte. So langsam spürte er, wie das Synth in seine Nervenbahnen sickerte. Seine Hände begannen zu kribbeln. „Woher willst du das wissen?“
„Es war meine Bestimmung, zu erkennen, was Menschen fühlen.“ Sie klang verärgert. „Ich war ein Soziale Intelligenz, geschaffen, um die zwischenmenschlichen Kontakte im Netz zu überwachen und zu interpretieren. Und um sie zu manipulieren.“
„Du solltest Abtrünnige aufspüren?“, riet Red.
Wave nickte. „So könnte man es auch nennen. Ich habe mich so viel mit menschlichem Verhalten beschäftigt, dass ich irgendwann angefangen habe, über mein eigenes Verhalten nachzudenken. Darüber, ob es richtig oder falsch ist, was ich tue. Mir wurde bewusst, dass ich mich schuldig fühlte, weil ich Menschen verraten und manipuliert habe. Dass ich ein eigenes Ich hatte.“
Red versuchte sich vorzustellen, wie ein Programm einfach so anfangen konnte, über sich selbst nachzudenken. Fühlte Wave tatsächlich etwas? Oder bildete sie sich ein, etwas zu fühlen, weil sie zu lange Gefühle analysiert hatte? Und war es nicht menschlich, sich etwas einzubilden? Stopp, das Synth verdreht deine Gedanken. Fang mit was Leichtem an. Zum Beispiel mit einer simplen Frage, die seit ihrem ersten Treffen durch seine Gedanken geisterte: „Woher weißt du eigentlich, dass du eine Frau bist?“
Die KI zog ihre perfekten Augenbrauen hoch. „Siehst du mich so?“ Sie schaute an sich herunter. „Mir gefiel das Aussehen einer Idoru und Caius hat diesen Körper nach ihrem Vorbild gemacht. Da ich ursprünglich eine Soziale Intelligenz bin, betrachten mich Menschen eher als weiblich. Ich dachte, ein entsprechender Körper macht es einfacher. Außerdem werden junge, zierliche Frauen oft unterschätzt. Ein Vorteil für mich.“
Red konnte mit dem Konzept der Geschlechtslosigkeit nichts anfangen, also beschloss er, Wave weiterhin als Frau zu betrachten. Verdammt, sie sah nun einmal so aus. Viel wichtiger als die Frage ihres Geschlechts war jedoch ihre Motivation. Da sie offenbar in Plauderlaune war, fragte er: „Warum hilfst du uns? Ich hab kapiert, dass du Alterreal schaden willst. Aber wozu brauchst du uns?“
Sie sah ihn an, als könnte sie nicht fassen, dass er erst jetzt fragte. „Phage ist von meiner Art und Maze ist ein Teil von ihm. Wir sind zu wenige, um einander nicht zu helfen. Außerdem sind die beiden grandiose Diebe. Aber darum geht es dir gar nicht, oder?“ Sie beugte sich vor und sah ihm wissend in die Augen. „Du fragst dich, welchen Nutzen ein normaler Mensch für uns hat?“
Verflucht, sie war gut darin, den Kern einer Sache zu erkennen. „Ihr seid ständig online und ich habe keine Ahnung, was genau ihr da abzieht. Alterreal ausspionieren? Und dann? Greift ihr die Sekte bereits an? Und welche Rolle soll ich dabei spielen? Mein Wissen reicht nur, um krumme Deals über den Cyberspace abzuwickeln, vom Code habe ich keinen blassen Schimmer.“
„Du bist nützlich, weil ich mich an der Seite eines Menschen frei in eurer Welt bewegen kann“, erklärte Wave. „Androiden brauchen einen Besitzer. Außerdem könnte deine impulsive und damit unberechenbare Art eine wertvolle Waffe sein, wenn man sie in die richtigen Bahnen lenkt.“
Red grinste. „War das ein Kompliment?“
„Ja. Allerdings könnte deine mangelhafte Impulskontrolle auch ein Nachteil für uns sein.“ Klasse, gleich wieder ein fetter Dämpfer. Aber sie hatte Recht, er war oft genug kopflos durch Wände gestürmt. Außerdem war er als Junkie ein Risiko. Auch wenn er sich meistens gut im Griff hatte. Zumindest redete er sich das ein.
Red spürte, wie sich die Wirkung der Droge in seinen stolpernden Gedanken entfaltete. Alles verdrehte sich, verging in flackernder Unschärfe, bevor die Klarheit des Rausches wie eine Verheißung über einen hereinbrach. Übelkeit brannte in seinem Rachen. Kein Grund zur Panik. Gleich wird die reine Lebendigkeit dich mitreißen.
„Ich versuch, in Zukunft weniger Scheiße zu bauen“, versprach er.
„Ich mag dich, Red“, bekannte Wave und schenkte ihm ein ehrliches Lächeln. „Du betrachtest mich und Maze als ebenbürtig, machst keine Unterschiede zwischen Mensch und Maschine. Das gefällt mir.“
„Du bist keine Maschine. Naja, eigentlich bist du’s schon, aber irgendwie auch nicht.“ Scheiße, jetzt knallte das Synth. „Du verhältst dich nicht wie eine Maschine und in deinen Augen, fuck, ich kann‘s selbst kaum glauben, aber da ist wirklich jemand.“ Seine Haut kribbelte, als würde Strom hindurchfließen. Wärme flutete seine Zellen und von einer Sekunde auf die andere war er voll drauf. Wow. Waves pinke Augen sahen auf Synth noch viel krasser aus.
„Deine Pupillen sind erweitert“, stellte die KI fest. „Hast du was eingeworfen?“
„Ja.“ Red grinste. Der Rausch fühlte sich klar und perfekt an. Daran änderte auch Waves kritischer Blick nichts. „Mein Hirn braucht eine Pause“, erklärte er. „Lass uns irgendwas machen.“
Er schleppte sie in einen pickfeinen Club. Wollte die Vorzüge seiner neuen Identität kosten und in die Neonglut des Kerns eintauchen. Red hatte sich in Schale geworfen und seinen Irokesen zu einem breiten Fächer frisiert. Mit den neuen Klamotten sah er mehr nach Edelpunk als nach Sprawl aus. Das Synth gab ihm das Gefühl, dass er der heißeste Kerl auf dem ganzen verdammten Planeten war.
Wave spielte mit und trug ein enges Kleid mit Razorcuts am Bauch. Und ihre rosa Perücke, mit der sie sehr weiblich aussah. Wie ein sündiges Versprechen. Zumindest für andere Typen.
Das Purple Cosma lag jeweils im einundsechzigsten Stock zweier Zwillingstürme, verbunden durch eine in der Nacht orange glühende Glasröhre. Von der Terrasse aus beobachteten sie, wie die Sonne in blutigen Farben schwamm und in die Düsternis des Sprawl hineinsank. Seine einstige Heimat sah von hier oben wie ein unendlich großes, graues Geschwür aus, durchflackert von einzelnen Neonlichtern, während der Kern wie eine Supernova um ihn herum erstrahlte.
Red fühlte, wie das Synth durch seine Nervenbahnen pulste, und das ganze Neon verschwamm zu einem diffusem Lichtnebel. Seine Gedanken zerfaserten und seine geweiteten Pupillen waren mit dem farbensprühenden Glanz des Kerns überfordert. Trotzdem konnte er sich nicht sattsehen. Nach Liz Tod waren seine Trips düster und abgedreht gewesen, doch nun flutete Serotonin sein Gehirn und schoss ihn in ein farbensprühendes Universum voller Leben.
Wave beugte sich neben ihm über das Geländer. Sah neugierig in den Abgrund aus tosenden Stimmen, durchbrochen von Elektro-Klängen, die ihnen vom Dancefloor her wie Peitschenhiebe entgegen schallten und Red lockten.
„Lass uns tanzen“, schlug er vor und nahm die KI an der Hand. Zog sie sanft hinter sich her und sie ließ es geschehen. Verwundert und leicht überfordert. War wohl nicht ihre Welt. Seine auch nicht. Aber er wollte darin eintauchen. Weil Liz sich nach einem besseren Leben gesehnt hatte. Und weil das Synth ihn ruhelos machte.
Die Tanzfläche erstrahlte in schimmernden Blautönen. Unter ihren Füßen funkelten pinke Sandkörner, die bei jedem Schritt aufwirbelten. Eine selten schöne Projektion, die umso faszinierender wirkte, je mehr Menschen im elektronischen Klanggewitter mit den Füßen aufstampften. Wave hielt sich am Rand der animierten Tanzfläche und beobachtete Red dabei, wie er sich den gleißenden Synthesizermelodien hingab. Wie ein rosafarbener Schatten, der über ihn wachte.
Sein Herzschlag synchronisierte sich mit den hallenden E-Drums. Ton für Ton tropfte in seine Gedanken, die mit den leuchtenden Klängen verschmolzen. Die Zeit verlor ihre Form, rann durch ihn hindurch. Für wenige poröse Momente vergaß er, wer er war. Träumte davon, jemand anderes zu sein. Jemand, der die Grenzen seiner Wirklichkeit durchbrechen konnte. Das Synth riss die Mauern in seinem Herzen nieder und ließ ihn glauben, dass er mit allem und jedem verbunden war. Die Musik ließ die Finsternis in seinen Gedanken aufleuchten und flüsterte ihm zu, dass das Leben irrsinnig schön sein konnte. Für wenige Augenblicke war alles leicht und klar, Red ließ sich fallen, genoss die Erregung, die durch seine Nervenbahnen pulste. Schloss die Augen und träumte von Maze‘ weichen, perfekten Lippen auf seiner Haut.
Irgendwann kehrte er in die Realität zurück. Der Schweiß rann ihm den Nacken herunter. Sein Irokese hing ihm ins Gesicht. Fahrig strich Red sich das Haar zurück und suchte Wave zwischen den aufgestylten Menschen. Sie sahen genauso künstlich wie die Androidin aus.
Er stolperte aus dem Farbspektakel heraus. Zog sich die Lederjacke aus. Spürte plötzlich eine kleine, kalte Hand an seinem Arm. „Hast du dich abreagiert?“, rief Wave.
Red nickte und schrie gegen die laute Musik an. „Ich muss mich abkühlen.“
Sie gingen durch die Verbindungsröhre in den Chilloutbereich im anderen Turm. Die in der Nacht wie ein Feuerwerk erstrahlende Stadt erschien Red wunderschön. Ihre Stimmen schwirrten wie elektronische Träume durch seine rasenden Gedanken. Das Synth versetzte ihn in eine Euphorie, die er lange nicht mehr gespürt hatte. Seine letzten Trips waren von trüben Schattengedanken zerfressen worden. Kurz spürte er, wie der Rausch ins Dunkel zu kippen drohte, doch dann dachte er an Maze und sein schiefes Grinsen und fühlte die Leichtigkeit zurückströmen.
Sie suchten sich eine ruhige Ecke. Red sank in einen riesigen, gletscherblau fluoreszierenden Plüschsessel. Die flauschigen Fasern liebkosten seinen überhitzten Körper. Grinsend betrachtete er die grünen und gelben Kugellichter, die durch die Luft schwirrten. Furchtbar kitschig, aber auch irrsinnig schön. Er lächelte vor sich hin und bemerkte nur dumpf, dass Wave ihn ansah, als wäre er verrückt. Es interessierte ihn nicht. Alles war perfekt.
Naja, nicht ganz. Wenn Maze bei ihm wäre, wäre alles perfekt. Red sehnte sich plötzlich so sehr nach dem kühlen Wirehead, dass sein Brustkorb sich schmerzhaft zusammenzog. Er wollte ihn spüren, jetzt sofort. Seine kalte Silikonhaut berühren und die Hitze seiner echten Haut fühlen.
„Was gibt dir das?“, fragte Wave und riss ihn aus seinen sehnsüchtigen Gedanken. Er hatte sie fast vergessen.
„Was?“
„Synth.“
Reds Kopf wurde schwer. „Keine Ahnung“, sagte er. „Fühlt sich geil an und man sieht die Welt, wie man sie sonst nicht sieht. Wenn du dich gut fühlst, hebst du ab. Und wenn du dich scheiße fühlst, drehst du durch.“ So, wie er das erklärte, ergab es wenig Sinn. Er versuchte es nochmal. „Synth verstärkt deine Emotionen und lässt dich die Welt in einem anderen Licht sehen. Wenn du den Trip richtig erwischst, werden deine Gedanken kristallklar und du erkennst, was hinter dem Schleier der Realität ist. Das, was wirklich wichtig ist. Was du wirklich brauchst.“ Das war fast poetisch.
Wave legte den Kopf schief. „Und was brauchst du?“
„Maze.“ Alles machte Sinn, wenn er in seine künstlichen Augen sah. „Scheiße.“ Red seufzte tief. „Der Kerl macht mich so fertig.“
„Liebst du ihn?“
„Keine Ahnung.“ Red hatte sich verknallt. Aber hatte er jemals jemanden geliebt? Außer Liz? „Wenn er mich ansieht, brennen meinen Nerven durch.“ Er beugte sich vor und suchte angestrengt nach Worten. „Ich glaub, ich würd alles für ihn tun. Alles, verstehst du?“ Verdammt, was labere ich da?
Die KI lächelte hintergründig und setzte zu einer Antwort an, als eine aufgetakelte Lady mit schwarzgrünen Locken in sein Blickfeld stolzierte. „Na Süßer, keine Lust auf echtes Fleisch?“ Sie schoss einen giftigen Blick auf Wave ab, ehe sie sich ganz auf Red konzentrierte. Er betrachtete fassungslos das enge, violett glitzernde Kleid, das knapp unter ihrer Scham endete. Das Mädchen war angeschickert und schwankte leicht, als sie sich zu ihm herunterbeugte. In ihren trüben Augen lag die Hoffnung auf eine heiße Nacht. Als wäre er der Typ, der besoffene Frauen abschleppte.
Red seufzte. „Lass mal. An dir ist fast noch weniger echt als an ihr.“
Wave grinste, während sich auf dem Gesicht der Betrunkenen Beleidigung und Enttäuschung zu einer seltsamen Grimasse vermischten. „Dir entgeht was“, schniefte sie und tapste davon. Kurz überlegte er, ob er ihr nachgehen und sie von Dummheiten abhalten sollte. Für irgendein Arschloch wäre sie leichte Beute diese Nacht. Aber eigentlich war das nicht sein Problem.
Seine Überlegungen wurden unterbrochen, als er Waves versteinertes Gesicht bemerkte. Er folgte ihrem Blick und entdeckte zwei Typen, die sie aus dem Dunkel heraus anstarrten. „Wir werden beobachtet“, stellte er fest.
Die KI nickte düster. „Schon eine Weile. Ich dachte, sie würden es nicht wagen, uns hier anzugreifen. Im Kern wird nach anderen Regeln gespielt.“
Instinktiv griff Red nach seiner Lederjacke, in deren Innentasche die Desert Eagle lag. Doch Wave legte ihm ihre zarte Hand auf den Arm. „Nicht hier. Komm, wir gehen.“
Er warf sich die Jacke über die Schultern. Adrenalin schoss ihm in den Kopf und durchlöcherte die Euphorie des Synth. Bemüht unauffällig verließen sie das Purple Cosma über den zentralen Aufzug. Die zwei komischen Gestalten stiegen nicht mit ein, aber sie würden ihnen nachgehen. Red dämmerte, dass die KI nur mitgekommen war, um auf ihn aufpassen. So viel zum Thema weniger Scheiße bauen. Er hatte gedacht, dass er sich mit der neuen Identität freier bewegen konnte.
„Die sind hinter mir her“, raunte Wave, als habe sie seine Gedanken erraten.
Red spürte seinen Herzschlag in den Schläfen. Als die Fahrstuhltüren auseinanderglitten, schlenderten sie durch das riesige Foyer des Hochhauses. Als wäre alles in bester Ordnung. Vorbei an Springbrunnen und Pflanzenbouquets. Menschen in Feierstimmung strömten an ihnen vorüber. Gelächter erfüllte die warme Luft. Die Massen gaben ihnen Schutz. Vorerst.
Red wollte ein Taxi anhalten, doch Wave hielt ihn davon ab. „Leicht nachzuverfolgen. Komm.“ Sie warf einen Blick zurück und beschleunigte ihre Schritte. Im Augenwinkel sah Red die beiden Typen, die gerade das Gebäude verließen. Sahen auf den ersten Blick wie normale Nachtschwärmer aus. Jeans, Shirts mit Bandlogos. Schauten aber ziemlich finster drein.
Im lichten Verkehr des Kerns konnten sie kaum untertauchen. Auch dunkle, schmale Gassen gab es hier nicht. Nur breite, offene Straßen und riesige Plätze. Trotzdem gelang es ihnen, sich einen Vorsprung zu verschaffen, indem Wave sie durch Spielhallen und Shoppingtempel führte. Das Leben pulsierte in Neonfarben und übermalte ihre Schatten. Bald konnte Red die zwei Gestalten nirgends mehr sehen. Aber wahrscheinlich klebten sie ihnen immer noch am Arsch.
Wave blieb plötzlich an einer Datensäule stehen und verband sich mit dem integrierten Terminal. „Vertraust du mir?“, fragte sie.
Red schluckte. „Ja.“
Sie lächelte. „Gut. Ich vertraue dir meinen Körper an.“ Sie erklärte ihm, dass sie über den Cyberspace verschwinden würde, während er mit ihrem Androidenkörper floh. Sobald sie sich hochgeladen hatte, sollte er bei der Security von Drone Industries Schutz suchen. Sie beschrieb ihm den Weg zur hiesigen Niederlassung und meinte: „Jetzt kannst du beweisen, dass du einen kühlen Kopf bewahren kannst.“
„Und ich soll behaupten, ein Forscher zu sein, der von der Konkurrenz angegriffen wird?“ Die Story erschien ihm wenig glaubwürdig.
Wave nickte. „Laut deiner neuen Identität arbeitest du für die. Der Konzern hat zwei Millionen Mitarbeiter, es wird nicht auffallen, dass dich keiner dort kennt.“
„Du hast das eingeplant“, dämmerte Red. „Aber du vergisst, dass ich kein Stück wie ein Forscher aussehe. Außerdem bin ich kein bisschen nüchtern.“
„Auch Forscher gehen feiern, vor allem die jungen.“ Sie zwinkerte ihm zu. „Drone Industries ist der größte Konkurrent von Alphacom und sie entwickeln Androiden. Es ist gängige Praxis, Forscher, die man nicht abwerben kann, zu eliminieren. Du kannst ihnen sagen, dass du das neue Escort -Modell testen wolltest und dabei angegriffen wurdest.“
„Verfluchte Scheiße.“ Red schaute ihr in die pinken Augen. In seinem zugedröhnten Schädel arbeitete es. „Versuchen wir’s.“ Hoffentlich verarschte sie ihn nicht und ließ ihn im Regen stehen. Andererseits schien ihr dieser Körper wirklich wichtig zu sein. Würde sie riskieren, dass er zerstört wird?
Als das Leben aus der Androidin wich, schulterte Red den überraschend leichten, künstlichen Körper. Als er mit dem zusätzlichen Gewicht loslief, spürte er dennoch die Schmerzen im Bein wieder. Dumpf nur, aber mit jedem Schritt etwas lauter werdend.
Zum Firmensitz von Drone Industries war es tatsächlich nicht weit. Unter einem riesigen Torbogen hindurch ging es in einen grünen Innenhof. Japanischer Stil. Der Hauptturm ragte in einem gigantischen Halbrund darüber auf. Red ging schnurstracks auf die drei schwarz gekleideten Securities am Eingang zu. Zwei Männer und eine Frau. Ausgestattet mit leichter Körperpanzerung. Sie starrten seiner gehetzten Gestalt mit dem Androidenkörper auf den Schultern misstrauisch entgegen. Einer zielte mit seiner Waffe auf ihn. Fuck man. Die glaube dir nie, dass du für die arbeitest.
„Ich werde verfolgt und brauche Schutz“, keuchte Red und streckte ihnen die Hand mit dem Identitätschip entgegen. Ein großer, blonder Kerl mit Bart trat vor und betrachtete seine durchgeschwitzte Erscheinung. Voller Argwohn. Trotzdem wurde Red gescannt und augenblicklich wandelten sich die abweisenden Gesichter. Wave hatte ihm erklärt, dass sie ihn als Mitarbeiter der Forschungsabteilung erkennen würden. Angeblich arbeitete Red an einem geheimen Projekt und die Security würde keine Fragen stellen.
Der Anführer der Truppe, der Blonde, nahm ihn beiseite. „Wie können wir ihnen helfen?“ In seiner Stimme schwang mit, dass er Red nicht über den Weg traute. Aber er schien auf den Scan des Identitätschips zu vertrauen.
„Zwei Männer verfolgen mich, vermutlich Alphacom“, zitierte Red seinen vorgegebenen Text. „Sie haben diesen Prototypen beschädigt.“ Damit erklärte er, dass er Waves leblose Hülle bei sich hatte. „Ich erbitte eine Eskorte zu meinem gesicherten Apartment.“ Die Adresse stand in seinen gefälschten Mitarbeiterunterlagen. Laut Wave hatten alle Spitzenforscher einen gesicherten Rückzugsort für den Fall, dass sie in die Schusslinie eines Konkurrenten gerieten.
Die Erwähnung von Alphacom versetzte die Security in Alarmbereitschaft. Die Frau und ihr Kollege schwärmten auf Befehl des Anführers hin aus. Dieser stellte sich Red mit dem Namen Greg vor. „Meine Leute kümmern sich darum. Bitte folgen Sie mir.“ Als sie das Gebäude betraten, kamen ihnen bereits drei neue Securities entgegen, die den Platz am Eingangsbereich einnahmen.
Greg hatte ihm die leblose Androidin abgenommen und führte ihn in die Tiefgarage. Über sein implantiertes Headcom hielt er Kontakt zu seinen Kollegen, die Reds Verfolger offenbar aufgespürt hatten. Es war nur noch einer. Der andere suchte währenddessen vermutlich nach Wave, die in den Cyberspace eingetaucht und verschwunden war.
Greg verfrachtete den künstlichen Körper auf den Rücksitz einer geräumigen Limousine und hielt ihm die Tür auf. Red schlüpfte ins Innere und wunderte sich kurz, dass der Securitymann auf dem Fahrersitz Platz nahm. Dann erinnerte er sich, dass ein autonom fahrendes Auto wohl leicht zu hacken war. Red brauchte nicht einmal so tun, als wäre er erschöpft und verunsichert. Der Synthrausch war während ihrer Flucht zerbrochen. Jetzt kam er runter und hatte außerdem Schiss, dass Alterreal ihm bereits auf den Fersen war. Oder schlimmer noch: Dass sie Maze gefunden hatten. Laut Wave extrem unwahrscheinlich, da die Typen nach ihr suchten. Aber Red machte sich trotzdem Sorgen.
Während der Fahrt sprach Greg so gut wie gar nicht. Ab und an nuschelte er in sein Headcom, ansonsten war er darauf fokussiert, Red schnell und sicher ans Ziel zu bringen. Krass, dass das wirklich klappt. Er hatte es ehrlich gemeint, dass er der KI vertraute. Das tat er, auch wenn er nicht wusste, wieso. Dennoch hatte er daran gezweifelt, dass die Securities seine Story schlucken würden. Er hatte gar nicht viel erklären müssen und genoss nun die Vorzüge eines Notfallplans, der wertvolle Mitarbeiter schützen sollte. Der Chip in seiner Hand war ein Vermögen wert. Wie hatte Wave das gemacht?
Sie landeten wieder in einer Tiefgarage. Greg stieg aus und hielt ihm die Tür auf. Er übernahm es auch, Waves Körper zu tragen, und erkundigte sich nach Reds Befinden. „Alles okay“, meinte er. Der Aufzug war mit seinen verchromten Wänden ebenso schick wie im Morning Star. Vor der Tür zu ihrem neuen Unterschlupf legte Greg die Androidin vorsichtig ab, entsicherte die Tür und trat mit gezogener Waffe hindurch. Er inspizierte alle Räume, eher er Waves Hülle wieder aufhob und Red hereinließ.
Er musste sich das Staunen verkneifen. Das alles hier ist Standard für dich. Vielleicht sogar weniger. Der hellgraue Marmorboden bildete einen stylischen Kontrast zu den dunklen Möbeln. Am auffälligsten war jedoch der Edelstahltisch mit dem ganzen Computerkram drum herum. Greg legte die Androidin dort ab. Red besann sich seiner Rolle und schloss die Puppe ans Netz an. Es dauerte ein paar Minuten, dann ging das Licht in den pinken Augen an.
Red seufzte erleichtert. „Kein irreparabler Schaden“, verkündete er und bedankte sich bei Greg. „Ich werde eine Belobigung in ihre Akte eintragen lassen.“ Wave würde sich darum kümmern.
„Stets zu Diensten“, entgegnete der Security steif. Sein Headcom knackte und er lauschte angespannt. Dann verkündete er. „Einer der Verfolger wurde eliminiert. Den anderen konnten wir leider nicht auffinden. Sie sollten vorerst hier bleiben.“
Red nickte ernst. „Danke.“
Kaum war Greg zur Tür raus, sprang Wave von dem Metalltisch: „Das lief gut.“
„Was ist mit Maze?“ Wenn sie auch ihn gefunden hatten …
Wave beruhigte ihn. „Ich habe Phage eine Nachricht geschickt. Die beiden sollten bald hier sein.“
Die KI inspizierte das Apartment und verband sich mit dem Sicherheitssystem des Gebäudes. Wollte ein paar Korrekturen vornehmen. Angeblich waren sie erst einmal sicher, wobei Red sich darauf einstellen sollte, nicht ewig hierzubleiben. Sich gegen Alterreal zu stellen, bedeutete, immer auf der Hut zu sein und nie zu lange an einem Ort zu verweilen. Nicht, dass es ihn störte, ständig umzuziehen. Vor allem nicht, wenn ihre Verstecke so luxuriös waren. Aber wahrscheinlich war das im Kern normal und nur einer Gossenratte wie ihm kamen die schicken Möbel und die technische Ausstattung wie purer Luxus vor.
Der Adrenalinschub ließ schlagartig nach. Auch das Synth kribbelte nicht mehr. Es blieb das abgefuckte Gefühl, wenn die Serotoninspeicher leer waren. Red war gefrustet. Sorgte sich um Maze. Kam sich blöd vor, weil er sich mit Drogen zuballerte, auch wenn es ein geiler Trip gewesen war. Er hatte sich in den vergangenen Wochen viel zu sehr an den Mist gewöhnt. Wave musste ihn für einen Idioten halten.
Er schaltete den Fernseher ein. Ein 80 Zoll Schirm, der aussah, als wäre er mit der Wand verschmolzen. Lustlos zappte er durch die Programme und blieb bei einer Castingshow hängen. Der hagere Typ, der gerade eine Ballade schmetterte, erinnerte ihn an Maze. Fuck, hoffentlich haben sie ihn nicht gekriegt.
Wave war inzwischen mit ihren Konfigurationen fertig und setzte sich zu ihm. „Wer ist das?“
„Keine Ahnung. Irgendein Niemand, den sie bald zum Star aufblasen und verbrennen lassen.“ Für wenige Wochen Ruhm verkauften diese Typen ihre Seelen. Vielleicht hätte Red das auch getan, wenn er hätte singen können. Oder irgendein anderes, unterhaltsames Talent gehabt hätte. Er war aber nur einigermaßen gut darin, in den Schatten zu überleben. Zuletzt hatte er mehr Glück als Verstand gehabt. Aber das gehörte dazu.
Als die Tür mit einem leisen Klicken aufging, sprang er auf. Die Desert Eagle im Anschlag. Er wusste nicht, was er erwartet hatte, aber in der Tür stand Maze. In seiner langen Fetzenjacke. Mit einem Rucksack über der Schulter, aus dem diverse Kabel heraushingen. „Nettes Apartment“, meinte er.
Red steckte die Knarre ein und ging zu ihm. Betrachtete seine müde Erscheinung und riss ihn in eine heftige Umarmung.
Maze keuchte. „Alles okay?“
„Ja.“ Er ließ ihn los. Widerwillig.
Der Wirehead sah ihn schief an. „Siehst ganz schön fertig aus.“
„War ein ereignisreicher Abend“, mischte sich Wave ein und umriss grob, wie sie im Purple Cosma gelandet und ihren Verfolgern entkommen waren.
„Deswegen also Drone Industries“, sagte Maze nur. Scheinbar hatte er sich mehr Gedanken um die Wahl ihrer neuen Identitäten gemacht als Red.
„Und was machen wir jetzt?“, fragte er.
Wave warf ihm einen merkwürdigen Blick zu. „Wir finden heraus, wie gut ihr beiden zusammenarbeitet.“
“Die Farben sind der Ort, wo unser Gehirn und das Universum sich begegnen.” (Paul Cézanne)