Bis ans Ende der Geschichte (Jodi Picoult)

Ende Geschichte

Verlag C. Bertelsmann, August 2015
Originaltitel: The Storyteller, Übersetzt von Elfriede Peschel
Hardcover, 560 Seiten, € 19,99
ISBN 978-35701021764

Genre: Belletristik


Klappentext

Sage Singer ist eine junge Bäckerin. Sie geht in ihrem Beruf auf und stört sich nicht daran, dass sie nachts arbeiten muss, wenn die meisten Menschen schlafen. Im Gegenteil, seit ihre Mutter bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist, bei dem Sage am Steuer saß, ist sie menschenscheu geworden. Selbst ihr Liebesleben spielt sich im Verborgenen ab, denn sie hat ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann. Um ihr Trauma zu verarbeiten, besucht sie eine Trauergruppe. Ein Mitglied dieses Gesprächskreises ist der 90jährige Josef Weber. Der frühere Deutschlehrer ist wegen seiner Hilfsbereitschaft im Ort sehr beliebt. Trotz des großen Altersunterschieds haben Sage und Josef ein Gespür für die verdeckten Wunden des anderen, und es entsteht eine ungewöhnliche Freundschaft zwischen ihnen. Doch als Josef ihr eines Tages ein lange vergrabenes entsetzliches Geheimnis verrät, bittet er Sage um einen schwerwiegenden Gefallen. Er gesteht ihr, dass er als junger Mann in Deutschland schwere Schuld auf sich geladen hat und möchte nun, dass Sage ihm hilft, seinem Leben ein Ende zu setzen. Wenn sie einwilligt, hat das allerdings nicht nur moralische, sondern auch gesetzliche Konsequenzen. Das stürzt Sage in einen tiefen Gewissenskonflikt. Denn wo befindet sich die Grenze zwischen Hilfe und einem Vergehen, Strafe und Gerechtigkeit, Vergebung und Gnade?


Die Autorin

Jodi Picoult, geboren 1967 auf Long Island, studierte in Princeton Creative Writing und in Harvard Erziehungswissenschaften. Seit 1992 schreibt sie mit sensationellem Erfolg Romane. Sie wurde für ihre Werke vielfach ausgezeichnet, beispielsweise mit dem New England Bookseller Award. Ihre Romane erscheinen in 35 Ländern. Sie gehört zu den erfolgreichsten und beliebtesten amerikanischen Erzählerinnen weltweit. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Hanover, New Hampshire.


Rezension

Jodi Picoult kann es einfach. Wieder packt sie mehrere äußerst sensible Themen in einen Rahmen und gibt ihnen Raum, sich zu entfalten. Wieder werden Ereignisse eindringlich aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, so entsteht eine wunderbare Graufärbung, denn es ist niemals schwarz oder weiß. Immer findet sie Anhaltspunkte, die sich in den Köpfen der Leser festsetzen und zwingt sie regelrecht, sich mit der eigenen Meinung zu einem Thema auseinander zu setzten und vielleicht doch noch einmal eine andere Perspektive zu akzeptieren. Nichts ist so festgefahren wie die eigene Meinung - nachdem Jodi Picoult sie in den Fingern hatte, löst sich der weiche Untergrund und die Räder drehen sich wieder - möglicherweise sogar in eine andere Richtung.

In mehreren Zeitebenen und von mehreren Personen greift Jodi Picoult das Thema Schuld und Sühne ausgiebig auf. Sage, eine junge Bäckerin, trifft in ihrer Trauergruppe auf Josef, der eine ungewöhnliche Bitte an sie hat. Eigentlich lebt er schon viel zu lange, besonders mit den Erlebnissen, die er im zweiten Weltkrieg hatte. Sage ist sich nicht sicher, was er von ihr erwartet. Sterbehilfe? Absolution? Oder einfach nur Vergebung, für Sachen, die ihrer Großmutter passiert sind? Sie ist nur eine pro Forma Jüdin, und Absolution will sie schon mal gar nicht erteilen. Sage schaltet Leo, eine Kriegsverbrecherjäger ein, der mit seiner Behörde schon ziemliche Erfolge hatte.

Alle unterschiedlichen Erzähler haben auch unterschiedliche Schriftarten und eine leicht abgewandelte Sprache, man kann im Buch selber sehr gut verfolgen, wer nun gerade erzählt. Ob es Josef, Sage, Leo, ihre Großmutter oder noch eine weitere Frau sind, ist sofort ersichtlich. Die Charaktere sind allerdings mal wieder gewöhnungsbedürftig, so hat sich Sage nach dem Tod ihrer Mutter fast völlig dem sozialen Leben entzogen und backt einsam nachts ihre Brötchen. Was natürlich nicht nur Brötchen sind, sondern nach besonderen Rezepten erstellte Brote, deren Menge auch von ihrer Gemütslage abhängig ist. Natürlich ist Sage eine außergewöhnlich gute Bäckerin, hier war es schon fast wieder zu viel des Guten. Allerdings wird sie dann von Josef in eine Richtung gedrängt, die ihr nicht behagt. Auch Josef muss erkennen, dass es nicht so einfach ist, wie er es sich vorgestellt hat. Die Lawine, die er in egoistischer Absicht losgetreten hat, kann er nicht mehr stoppen, Sage handelt einfach nicht so, wie er es sich wünscht und erwartet.

Die Nebencharaktere sind nett und passen prima in die Geschichte, alle sind irgendwie sonderbar und mit seltsamen Talenten ausgestattet. Wenn man sich aber erst einmal auf die Geschichte eingelassen hat, bekommt man - wieder einmal- eine ergreifende Dokumentation aus dem Zweiten Weltkrieg, die ganz schön auf die Tränendrüse drückt. Die Sichtweisen sind allerdings äußerst unterschiedlich, denn es ist nicht nur eine Geschichte des Holocausts, sondern auch die eines Kriegsverbrechers. Unwillkürlich fragt man sich, wie man selber in der Zeit geworden wäre, denn das Umfeld spielte in dieser grausamen Zeit eine unheimlich große Rolle. Natürlich sind gewisse Wesenszüge Voraussetzung, um ein Offizier zu werden, aber ist es feige, ein Mitläufer zu sein oder zu handeln, nur um das eigene Leben zu retten? Immerhin muss jeder mit sich selber wieder ins Reine kommen und mit seinem Gewissen ausmachen. Wer hat das Recht, über andere zu richten? Nur die Opfer? Und je nachdem, wie man richtet, stellt man sich dann nicht auf die gleiche Stufe wie die Verbrecher?

Am Ende gibt es noch einen Twist, der die Handlungen in der Gegenwart sehr in Frage stellt. Er beweist, wie schwierig es ist, sich wirklich sicher sein zu können, das Richtige zu tun. Sterbehilfe ist nicht so einfach, wie es sich manchmal darstellt. Anschließend gibt es einen Toten und den Überlebenden, der - wenn er sich auch vorher noch so sicher war - dann doch mit einer Schuld leben muss, vielleicht doch nicht das Richtige getan zu haben. Der Autorin gelingt es auch hier hervorragend, alle Aspekte hervorzuheben und dabei nicht anzuklagen oder sich moralisch auf eine Seite zu stellen. Überhaupt ist das Thema Judenverfolgung und Konzentrationslager gründlich recherchiert, beklemmend sind die Schilderungen und man ist wieder einmal froh, nicht in dieser Zeit zu leben und möglicherweise vor unmenschliche Entscheidungen gestellt zu werden.


Fazit

Jodi Picoult ist mit Bis ans Ende der Geschichte eine sehr emotionale Aufarbeitung des Krieges gelungen. Viele Tränen werden fließen, wenn die Geschichten aus dem Warschauer Ghetto und des Konzentrationslagers erzählt werden. Ihrer Genialität ist es zu verdanken, dass nicht nur die eine Seite beleuchtet wird, sondern auch die Sicht der Peiniger dargestellt wird. Unwillkürlich überlegt man, wie man selber in der damaligen Situation sich verhalten hätte - was heute eigentlich unvorstellbar sein sollte, war damals ein reiner Überlebenskampf.


Pro und Contra

+ verschiedene Sichtweisen des Krieges
+ wechselnde Erzählperspektiven
+ interessante Charaktere
+ neutraler Umgang mit Problemen
+ hochbrisante Themen
+ verschiedene, aktuelle Themen
+ durchgehende Spannung
+ kein Verurteilen, nur Aufklärung

- erfundene Geschichte der Großmutter überflüssig
- sehr emotional berührend,
- viel Gewalt, das muss verarbeitet werden

Wertung sterne4

Handlung: 4/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4/5
Preis/Leistung: 4/5


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