Verlag: Lübbe, September 2010
Originaltitel: Handle with Care
Übersetzt von Rainer Schumacher
Hardcover, 624 Seiten, € 19,99
ISBN: 978-3431038286
Genre: Belletristik
Klappentext
Willow, ihr lang ersehntes Kind, ist perfekt. Das ist das Erste, was Charlotte O’Keefe hört, als sie ihr Baby auf dem Ultraschallbild sieht. Ja, es ist perfekt. Daran ändert auch Willows Krankheit nichts. Charlotte liebt ihr Kind abgöttisch und will nur eines: es beschützen. Denn Willow braucht allen Schutz der Welt. Beim kleinsten Stoß brechen ihre Knochen. Doch auch ihr Herz kann brechen. Genau das scheint Charlotte zu vergessen, als sie vor Gericht das Geld für die richtige Behandlung erkämpfen will. Sie verklagt ihre Frauenärztin. Die Krankheit hätte schon zu Beginn der Schwangerschaft erkannt – und die Eltern gewarnt werden können. Charlotte muss behaupten, ihr geliebtes Kind sei besser nie geboren worden...
Erschütternd, tief bewegend und sensibel führt dieser Roman mitten ins Herz einer Familie, die durch die Kraft einer bedingungslosen Liebe verbunden ist.
Die Autorin
Jodi Picoult, geboren 1967 auf Long Island, studierte in Princeton Creative Writing und in Harvard Erziehungswissenschaften. Seit 1992 schreibt sie mit sensationellem Erfolg Romane. Sie wurde für ihre Werke vielfach ausgezeichnet, beispielsweise mit dem New England Bookseller Award. Ihre Romane erscheinen in 35 Ländern. Sie gehört zu den erfolgreichsten und beliebtesten amerikanischen Erzählerinnen weltweit. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Hanover, New Hampshire.
Rezension
Erschütternd – Erschütternd und unvorstellbar ist das neueste Buch von Jodi Picoult. In ihrer bekannt mitreißenden Art scheut sie sich wieder nicht vor hochbrisanten Themen. Zupackend beleuchtet sie schwierige Fälle, über die sonst der Mantel des Stillschweigens gelegt würde, von allen Seiten, ohne zu verurteilen. Denn es gibt sie immer – die zweite Seite, die auf den ersten Blick zum Stirnrunzeln verleitet, oder dazu, eine Person zu verdammen und sie gefühllos wirken lässt. Aber blickt man einmal hinter die scheinbare Gefühllosigkeit, findet man verzweifelte Charaktere, die das Beste aus einer Situation machen wollen und einfach zu besonders drastischen Maßnahmen greifen müssen. Was nicht nötig wäre, wenn Versicherungen für schwerstbehinderte Kinder alles Notwendige zahlen würden. Was nicht nötig wäre, wenn die Spezialanfertigungen nicht so teuer wären. Was nicht nötig wäre, wenn nicht nur ein Elternteil arbeiten gehen könnte und das andere Elternteil sich aufreibt in der Betreuung des behinderten Kindes. Wie ein Zahnrad greift eins ins andere und treibt Menschen zu Verzweiflungstaten – auch dazu, zu gestehen, ein geliebtes Kind ungewollt geboren zu haben, wenn man früher von der verheerenden Krankheit gewusst hätte. Was ist gerecht? Dem Kind jegliche Chance auf ein Leben zu nehmen, oder ihm ein Leben zu ermöglichen, mit allen schwierigen Konsequenzen.
Zerbrechlich – die Glasknochen, genauso zerbrechlich wie das Leben. Ein falscher Schritt, eine falsche Drehung – und alles kann schon wieder ganz anders sein. Unvorstellbar die Schmerzen, die ein Kind mit dieser Krankheit sein ganzes Leben lang erdulden muss. Ein Kind, was bereits im Mutterleib schon sieben Knochenbrüche hat und bei der Geburt zwei weitere bekommt. Ein Kind, was sich alleine schon beim Niesen eine Rippe bricht. Ein Kind, was niemals toben darf, nie rennen oder springen – es könnte sich beim Aufkommen den Fuß brechen. Ein Kind, was niemals mit seiner großen Schwester auf das Eis gehen darf. Ein Kind, dessen Augen sich blau färben, wenn es sich wieder einmal etwas gebrochen hat. Und das passiert häufig, alleine mit fünf Jahren hat Willow schon 57 Knochenbrüche hinter sich. Selbst das Schulterblatt, was fast unmöglich ist, hat sie sich gebrochen, nur weil sie aus dem Affekt etwas aufhalten wollte. Trotz alldem hat Willow ein erfülltes Leben, denn sie ist ein kleines Genie. Sie ist hochintelligent und geistig auf einem weit höheren Niveau, als ihr biologisches Alter. Sie redet wie ein Erwachsener und saugt Informationen jeglicher Art förmlich in sich auf. Ihr bleibt auch nichts anderes übrig – unbeweglich, wie sie ist. Ihre Eltern lieben sie, sie sind immer für sie da, Willows Bedürfnisse haben Vorrang vor allem anderen.
Und doch begehen sie eine sträfliche Vernachlässigung eines Kindes – nämlich ihrer älteren Tochter Amelia. Sie ist Charlottes Tochter, ihr Vater spielt keine Rolle in dieser Geschichte, Sean sieht sie als seine Tochter an. Sie ist ein Mitglied dieser Familie, darauf legt Sean großen Wert. Nur warum behandeln sie sie dann nicht auch so? Amelia muss immer zurückstecken, was Willow nicht kann, wird auch nicht gemacht. Unbegreiflich, warum nicht ein Elternteil auch mal etwas mit ihr alleine unternimmt, darüber wird noch nicht einmal nachgedacht. Entweder alle – oder keiner. Amelia wird dann schon mal vergessen, wenn Willow wegen eines Knochenbruches in die Notaufnahme muss, ihr wird suggeriert, dass das natürlich wesentlich wichtiger ist. Ihr Aufbegehren wird ignoriert, ihre stummen Hilfeschreie überhört. Amelia wird immer unsichtbarer und zieht sich in sich zurück – und keinem fällt es auf. Erst als Außenstehende die Familie darauf hinweisen, wird Amelias Leid offensichtlich. Leider ist dieses Verhalten häufig in einer Familie mit einem behinderten Kind. Dessen Bedürfnisse, die ja weitaus größer sind als die eines normalen Kindes, werden gestillt, das andere Kind muss sehen, wo es bleibt. Diesem Balanceakt gerecht zu werden ist wie ein Tanz auf dem Drahtseil, bei der kleinsten Unsicherheit rutscht man ab und das Desaster nimmt seinen Lauf.
War die Anklage wirklich gerechtfertigt? Was es das wert, eine Freundschaft zu zerstören, der besten Freundin sozusagen einen Dolch in den Rücken zu stoßen? Wie bringt man einem Kind bei, dass seine Geburt ungewollt war? Hätte Charlotte nicht irgendeinen anderen Ausweg nehmen können? Für Charlotte ist es die einzige Möglichkeit, ein Versuch, Willows Leben abzusichern und es in ertragbare Bahnen zu lenken. Wenn nur Geld genug da ist, um einen neuen Van zu kaufen, anstatt den alten nur notdürftig reparieren zu lassen. Einen neuen Rollstuhl zu kaufen, wenn der alte nicht mehr passt und nicht erst fünf Jahre warten zu müssen, bis die Versicherung die Kosten trägt. Geld für die Wartung des Rollstuhls, für behindertengerechte Einrichtung der Wohnung, für eine Rollstuhlrampe, für Therapien, für Sommercamps speziell für Kinder mit der Glasknochenkrankheit. Was passiert, wenn Willows Eltern einmal etwas passiert und sie nicht mehr für sie sorgen können? Der Druck ist groß, die Möglichkeit einmalig. Was danach passiert, liegt nicht mehr wirklich in Charlottes Hand. Sie wird als das Monster angefeindet, die ihre Tochter nicht wollte, nur weil sie behindert ist. Wer entscheidet überhaupt, ob ein Kind das Recht hat, geboren zu werden? Der Elefant stürmt los – und hinterher liegt alles in Scherben, zerbrechlich wie das Leben. Einer gewinnt im Gericht – aber ist es wirklich ein Sieg?
Jodi Picoult wäre nicht Jodi Picoult, wenn sie nicht eine weitere, genauso faszinierende Nebenhandlung in ihre Story eingebaut hätte. Marin Gates, Charlottes Anwältin, ist adoptiert und auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Viele Informationen hat sie nicht, denn Adoptionsakten liegen unter Verschluss und sind auch Anwälten schwer zugänglich. Picoult beschreibt einfühlsam Marins Gefühle, die nicht wirklich einordnen kann, ob sie sich minderwertig fühlen soll, da ihre Mutter sie nicht wollte, oder froh und glücklich sein soll, in eine liebende Familie gekommen zu sein. Realistisch hinterfragt die Autorin beide Seiten, ob es wirklich besser ist für eine Mutter, ihr Kind gegen alle Widrigkeiten bei sich zu behalten oder ihrem Kind das Beste zu wünschen und es in eine heile Familie zu geben. Für viele Frauen ist es der einzige Weg, ein eigenes Kind zu bekommen, sie lieben es genauso, wie ihr eigenes. Was macht eine Mutter wirklich aus, das Kind geboren zu haben oder es aufgezogen zu haben. Wird die Stelle der leiblichen Mutter vielleicht überbewertet? Möglicherweise entstammt das Kind einer Vergewaltigung, ist es da nicht verständlich, wenn die leibliche Mutter nicht jeden Tag an ihre Qualen erinnert werden will? Die Gründe, ein Kind wegzugeben sind vielfältig, Marin sollte nicht ihr Leben vor lauter Grübeln aus den Augen verlieren und die Tatsache akzeptieren, dass ihre Mutter ihre Gründe hatte – welche auch immer. Den Grund zu wissen, erleichtert möglicherweise ihr Leben, dazu muss er aber auch akzeptiert werden.
Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, die sich auch optisch durch andere Schriftarten unterscheiden. Durch diese ständigen Wechsel bekommt man Einblicke in die verschiedenen Sichtweisen der handelnden Personen, sie wird nachvollziehbar und rechtfertigt das Handeln des Einzelnen. Geschrieben ist es in einer Art Brief an Willow, jeder erzählt, wie er empfand und wie er Willow erlebt hat, ihre Gefühle und Äußerungen kommen nur durch die anderen Personen ans Tageslicht. Durch diese Perspektivwechsel bleibt es aber durchgehend spannend, nie weiß man, wer als nächstes erzählt, ob in der Gegenwart oder in der Vergangenheit. Erwartungsvoll wird Seite um Seite umgeblättert, wie wird das Gerichtsurteil wohl ausfallen und wie wird es in aller Leben eingreifen. Denn unberührt bleibt keiner von dem Urteil und der Verhandlung, zerbrochen wurde dadurch vieles. Wie viel wird wohl wieder zusammengesetzt werden können?
Das Ende wiederum macht wütend. Wütend auf ein Kind, was es eigentlich besser wissen sollte. Wütend auf Handlungen, die unnötig waren. Typisch Jodi Picoult und typisch Tränendrüsen drückend. Über der ganzen Geschichte und der Darstellung Willows darf man aber eines nicht vergessen – Willow ist erst ein Kind von sieben Jahren mit einer ungewöhnlichen und nicht heilbaren Krankheit, ein Kind, was gelernt hat, mit Schmerzen umzugehen, ein Kind, was sich anhören musste, dass es nicht gewollt war. Dass es bei dem Prozess gar nicht um die Geburt an sich ging, sondern lediglich um die Wahl, die die Eltern nicht hatten, ist dabei nebensächlich. Solange in Amerika über alles geklagt werden kann.
Fazit
Ist Charlotte O’Keefe wirklich ein Monster? Hat sie nicht nur etwas ausgesprochen, was manche andere denken, es aber nie sagen würden? Oder ist es einfach nur eine Verzweiflungstat einer verzweifelten Frau, die das Beste für ihr Kind möchte? Jodi Picoult hat hierfür bestimmt kein Patentrezept oder eine endgültige Meinung, sie durchleuchtet lediglich alle Seiten einer vertrackten Situation, ohne zu verurteilen oder zu rechtfertigen. Sie gibt dem Leser genügend Raum für seine eigene Meinung und bittet lediglich zu bedenken, dass Schwarz nicht immer Schwarz und Weiß nicht immer Weiß sein muß. In ihrer unnachahmlichen Art hat sie wieder mal ein Buch der Nachhaltigkeit geschaffen, über das man noch sehr lange nachdenken wird, ein Buch, was zu Diskussionen anregt, ein Buch, was keine allgemeingültigen Lösungen aufzeigt, sondern viele verschiedene Facetten einer Sichtweise hinterlegt.
Pro und Contra
+ authentischer und detailgetreue Aufklärung über OI, Osteogenesis imperfecta, der Glasknochenkrankheit
+ wechselnde Erzählperspektiven
+ interessante Charaktere
+ neutraler Umgang mit Problemen
+ hochbrisante Themen
+ durchgehende Spannung
+ kein Verurteilen, nur Aufklärung
- das Ende
Wertung:
Handlung: 4,5/5
Charaktere: 4/5
Lesespaß: 4,5/5
Preis/Leistung: 3/5
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